11.11.2011

Günther

1
Im Freibad von Stettin
gab es vier Becken, fünfzig Meter lang,
und einen Sprungturm, sagt Günther,
zehn Meter hoch.

Wir gingen da gern hin,
als Kinder, ins Freibad.
So gern.

Aber dann kam der Krieg,
und alles wurde zehn Pfennig teurer.


2
Sein Vater war Dachdecker,
die Dächer waren aus Pappe.
Als die Bomben fielen, brannten die Dächer.
Wie Pappe, sagt Günther.

Nichts war mehr da.
Nix, sagt Günther.
Nur Asche.

Man vermisst es ja doch.
Ganz vergessen is nich drinne.


3
Die Knie kaputt geschossen,
als Soldat, mit 16,
den Arm, Splitter hat er im Kopf,
noch immer, sagt Günther.

Die Knie tun weh.
manchmal der Kopf,
wenn das Wetter sich ändert.

Alles für diesen Verrückten, sagt Günther.
Alles fürn Arsch.


4
Zwei Jahre Gefangenschaft,
in Frankreich,
zum Glück nicht beim Russen, sagt Günther.
Dann kam er heim.

Er ging die Straße entlang,
auf der einen Seite, auf der anderen
kam ihm die Schwester entgegen.

Wat ne Freude, sagt Günther.
Dann sah er die russischen Panzer.


5
Günther machte Mittagspause,
da kam ein Anruf.
Er spülte das Geschirr ab
und stellte es beiseite.

Min Mudder gehts schlecht,
sagte Günther zum Kollegen
und fuhr hin.

Als er ankam,
war sie tot.


6
Vier Söhne hat er.
Der Stamm der Eiche war so,
als sie geboren wurden, sagt Günther.
Jetzt ist er so.

Drei sind fortgezogen
zwei davon weit.
Olpe, Beeskow, wo eben Arbeet is, sagt Günther.

Und einen, den Jüngsten, sagt Günther,
haben die Mestasen aufgefressen.


7
Min Fruu konnt nix mehr essen.
Wat mitn Magen, sagt Günther.
Als sie merkte, dass der Tod kommt,
zeigte sie ihm, wie man Bettlaken wäscht.

Sie kam ins Krankenhaus.
Aber da, sagt Günther,
konnten sie ihr auch nicht mehr helfen.

Der eine geht früh, der andere spät.
Es is nich anners.


8
Als die Fruu tot war,
kochte er sein Essen selbst.
Rührei, Kartoffelbrei,
sonntags Tomatensalat.

Als der Pfeffer aufgebraucht war,
rief er die Volkssolidarität an
und bestellte Essen auf Rädern.

Alleene sein, sagt Günther,
is beschissen.


9
Der Hausbesitzer hat gefragt,
ob er nicht ins Heim ziehen will.
Zehn Betten für Touristen
passen in Günthers Wohnung.

Er hat auch die Weiden gefällt
vor dem Haus, sagt Günther,
aber die schlagen wieder aus.

Günther ist sechsundachtzig Jahre alt
und will hundert werden.


10
Die Kumpels sind weg, die Kollegen,
die Söhne, min Fruu.
Man kommt nich mehr zusamm,
sagt Günther, alle sind wech.

Laub, Stille, Milch.
Er wird sich nie mehr fragen,
was die Mehrzahl von irgendwas ist.

Dunkelheit, Durst,
Günther.