30.05.2012

»There is no answer. It's okay.«

(Raymond Carver)

29.05.2012

Ansicht

Dass die Dummen nicht mehr glücklich sein können –
das ist die wahre Krise der Welt.

Gehet hin im Frieden des Herrn

Die Kakteen auf dem Sims, die Gardinen, die Katzen aus Porzellan: Diese Fenster sind zum Gaffen gemacht. Dahinter stehen die Leute wie Kühe im Nebel, doch die Straße davor ist leer, seit um halb elf am Morgen der Wagen hinaus ins Moor gefahren ist. Wo bleibt er denn? Was macht er da? Wann kehrt er um? Der Dorfpastor streichelt die Katzen und denkt über die Erlösung nach, für seine Predigt am Sonntag in einer leeren Kirche.

26.05.2012

Im Hospiz

Die Großmutter kann nicht sterben: Sie versteckt sich vor der Friedofskapelle, die hinter den Tannen lauert wie ein Kriegsschiff.

25.05.2012

Nicht mit den dicken Schuhen in die gute Stube!

Trockenes Pfingsten

Sie habe die Stiefmütterchen heute Morgen gegossen, sagt die Witwe, und jetzt, am Abend, ließen sie schon wieder die Köpfe hängen. Auf dem Grab liegt eine Tonscherbe mit der Aufschrift DU FEHLST. Was wir brauchen, sagt die Witwe, ist Regen.

24.05.2012

Ich bete mich an.
Die alte Frau rief ihren Hund, sehnsüchtig, nicht streng, sie rief ihn bei seinem Namen: »Papi!«
Ich blieb nicht lang genug dort, um zu sehen, ob der Hund ihr folgte.

23.05.2012

Die Zukunft des Feuers.
In Erwartung des nicht Wiederkehrenden.

22.05.2012

»Please God, please Knut Hamsun, don't desert me now. I started to write and I wrote:

The time has come, the Walrus said,
To talk of many things:
Of shoes — and ships — and sealing-wax —
Of cabbages — and kings —«

(John Fante)

Sie hauchte ihr Leben aus, nur um einmal zu spüren wie das ist: hauchen.
Auf dem Weg zur Schule, durch den Blick auf den Jungen der vor mir ging, auf seinen dicken Nacken und die Art, wie er an den Zweigen riss, lernte ich das erste Mal, was Hass ist, den niemand verdient.

20.05.2012

»Auf dem Weg zum Italiener verliere ich erneut die Orientierung und bin froh, als ich endlich im Bett liege und der Muezzin zum hundertsten Gebet des Tages ruft. Ein großer, mächtiger, tödlicher Gott, der so anhaltend bebetet werden muß.«

 (Wolfgang Herrndorf)
Die Macht des Blattes, die Zeit anzuhalten: Solang es herabfällt, steht sie still.

18.05.2012

Erich II

Erich hatte das Wettessen in der Stadt gewonnen, weit vor allen anderen. »Denen habe ich aber mal gezeigt«, sagte er, als er zurück im Dorf war, »was Hunger ist.«

17.05.2012

Zwei Jahre zurück
auf der Straße des vorletzten Juni.
Was suchst du im Laub?
Die Blätter des Sommers,
in dem ich unglücklich wurde.

16.05.2012

»Tiere sind schon darum merkwürdiger als wir, weil sie ebensoviel erlebt haben, es aber nicht sagen können. Ein sprechendes Tier wäre nicht mehr als ein Mensch.«

(Elias Canetti)
Sie roch, wie ein nasses Tier sich selbst riecht.

14.05.2012

»One is seduced and battered in turn. The result is presumably wisdom. Wisdom! We are clinging to life like lizards.«

(James Salter)

13.05.2012

Schwarzwald,
Weißwald,
Keinwald.
So groß wie ein Kind.

09.05.2012

»Bedenke auch, dass alle Zeit, in der wir nicht waren, mag ihre Dauer auch von Ewigkeit sein, für uns wie nicht gewesen ist.«

(Lukrez)
Ein Jahr, das zurückliegt, ist kürzer, als ein Tag, der niemals kommen wird.

07.05.2012

Doch, das kann es.
Er sagte es weniger, als dass er es nicht sagte.
Gestern Abend trug er seinen Jungen, der von der Albernheit der schwindenden Kräfte noch zuckte in seinen Armen, ins Bett und ahnte nicht, dass es das letzte Mal sein würde. Denn schon heute ist er zu schwer dafür.

06.05.2012

»Als der Ausreißer gefasst wurde
hatte er die Taschen
voller Pfifferlinge.«

(Tomas Tranströmer)

05.05.2012

Neben der Straße, auf einer Wiese

Der Junge weint, bis er hustet, das Gesicht wird rötlich, dann rot, eine Fratze, die vor allen, die sie sehen, die Augen verschließt. Sein Bruder, der ihn erst geschlagen hat und jetzt von hinten hält, kann ihn nicht trösten, nur vom Dahinsinken abhalten. Denn er weint ja nicht vor Schmerz, er weint, weil er weiß, dass die Kindheit vorüber sein wird, sobald er die Augen öffnet, und damit das einzige, was er zu kennen meinte: sein Leben.
Nachts, wenn man nicht mehr hinaus gehen möchte, sind alle Städte gleich groß.


















Der junge Prinz John soll ein Kind mit einem sehr lieben Charakter gewesen sein, das offen auf seine Mitmenschen zuging.

Prinz John litt seit seinem vierten Lebensjahr an Epilepsie und Autismus. Prinz John wurde deshalb aus der Familie entfernt. Seinen Geschwistern war es verboten, in der Öffentlichkeit von ihm zu sprechen, oder auch nur mit dem jüngeren Bruder zu spielen. Sie nannten John meist nur »das Monsterkind«.

Seit 1917 lebte John mit seinem Kammerdiener und seiner geliebten Nanny »Lalla« auf der Wood Farm in Wolferton, Norfolk, einer Besitzung, die zum königlichen Gut Sandringham gehört. Er starb dort am 18. Januar 1919 im Schlaf.
»Ich seh das jetzt immer noch, wenn ich hier herumfahre, dann seh ich die kleinen Jungen am Bahnhofsrestaurant, und der Vater schaut schon auf die Uhr. Die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern ist die schlimmste und kälteste. Keine Ferien. Das dauert sehr lang. Es ist dunkel, und das geht auf einen über.«

(Peter Handke)

03.05.2012

Sein Herz war dreimal so groß wie das Saarland.
»Kinder spielten mit der Sonnenleiche Fußball.«

(Etel Adnan)
Aufhören zu denken,
um zu denken.
»Die Beine über einander gelegt
Sitzt Velimir. Er lebt.«

(Daniil Charms)
Die Diktatur des Kummers.

02.05.2012

Tod am Unfallort

Der Fuchs im Scheinwerferlicht, eines Nachts im Frühsommer. Wird er jetzt überfahren? Er schaut. Er wartet. Es ist ihm egal. Es ist das einfache Ende einer einfachen Geschichte. Wer wollte sie erzählen? Er nicht.

01.05.2012

»Damals lernte ich verstehen, warum die Tiere Hörner haben. Sie enthielten alles Unverständliche, das in ihrem Leben nicht unterzubringen war, die wilde und zudringliche Laune, den geistlosen und blinden Starrsinn.«

(Bruno Schulz)
Zwei Jahre zurück
auf der Straße des vorletzten Juni.