31.01.2012

»Wir hatten in den letzten Tagen starke Nord-Ost-Winde«, sagte der Bürgermeister. Dabei sei die Leiche offenbar angespült worden.

30.01.2012

Der weiße Rabe

In dieser Familie besaß jeder nur einen Lappen. Nachdem sie sich selbst gewaschen hatten, wuschen sie den Lappen. Der Lappen war meist sauberer als sie selbst. Er musste Jahre halten.
Der Lappen des Jungen war weiß mit einer roten Lasche, an der er ihn abends, vorm Schlafengehen, über den Ofen hängte, damit er bis zum Morgen trocknen würde. Wie ein elender Rabe blickte der Lappen auf den Jungen herab und war, als wollte er es noch schlimmer machen, nicht schwarz, sondern weiß. Ein weißer Rabe, selbst im Dunkeln.
In einer Winternacht nun blies ein eisiger Sturm, und warum der Junge plötzlich Lust bekam, das Fenster zu öffnen und den noch klammen Lappen hinaus in den Sturm zu hängen, das kann er heute, nach all den Jahren, beim besten Willen nicht mehr sagen.
Der Lappen gefror im Sturm und wurde so hart, dass er sich leicht in zwei Teile brechen ließ. Zwei Lappen hatte der Junge nun, einen mehr als zuvor. Zwei kleine Lappen.
Der Vater wurde zornig, als er am Morgen die zwei kleinen Lappen in den Händen des Jungen sah. Er schlug ihn hart ins Gesicht, doch der Junge war trotzdem froh: Denn er hatte einen Lappen, um ihn gegen die blutende Braue zu pressen, und immer noch einen, um sich zu waschen. Etwas, wenigstens etwas hatte er richtig gemacht.

28.01.2012

Der Kalte

Die Notwendigkeit, dies darzulegen, bringt es hervor. Es geht hier im Einzelfall um einen Marder. Er ging ein im Frost auf dem Dach des Anbaus.

So war sein Ende, er schleppte sich dorthin für Tage.

Was ihm sonst Wärme gab, war nun kalt und tot vom Wind aus Osten. Und als er kauerte darin und schaute und wartete und nicht wusste, was war, kam ihm die Welt tot vor und so kalt.

An einer Kante, er spürte es nicht, zerbrach sein Schwanz. Voll Öl sein Fell, es drang ihm aus dem Balg und gefror und taute kalt. Strähnen zerknackten, gewiss ein Ohr, dass er im Nu nackt war und ohne das, was ihn nicht warm hielt.

Noch mehr zerbrach und fiel dann ab, der Marder war kein Marder mehr, war er es je? Wer ist was im Frost, ohne Haus und ohne Konto?

Es fand, es sei ein Teil der Kälte, ein Tier, bloß eine Ecke eines Blocks wie einer Stadt, eines Lochs und wie des Winters.

Mit knusperndem Puls in seiner Mitte krauchte es aufs Dach. Der Hunger, der Frost: Nur ein wenig Abwärme von da, wo es so warm war. Da lag das Dach da, weiß und sauber und blau.

Stunden danach, die vergingen nur im Gebet des erfrierenden Tieres, der Duft von heißem Holz, ein Säuseln.

Dann fiel es um und wusste nicht warum und fror. Dann ging es ein und wusste nicht warum. Der Wind fror selbst.

So sah ich es liegen im Frost auf dem Dach des Anbaus. Es wird beseitigt werden wie anderswo Gestrüpp und Schmutz. Im Einzelfall war es ein Marder.

Die Notwendigkeit, dies darzulegen, bringt es hervor, auch wenn ich huste.

27.01.2012

Im Licht, das bereits abnahm zum Abend hin, ertrank der taubstumme Junge im Kolk. Schließlich hörte er doch noch, wie sein Herz aufhörte zu schlagen.
Er schätzte, es war siebzig Jahre nach ihrem Tod, dass seine Großmutter starb.

Es war ja nichts passiert.
Aber es störte ihn trotzdem, dass sie nun hinausging, auf die Straße, unter die Leute, als wäre nichts passiert.

26.01.2012

Der Enthusiasmus des Sichaufgebens.
»Er ist einer«, sagte er und zog an der Zigarette, »der seine eigene Schwester küsst«, er zog noch einmal, »weil es in dieser Stadt keine Schafe gibt.«
Ohnehin.

25.01.2012

»I had seen birth and death but had thought they were different.«

 (T.S. Eliot)

24.01.2012

Der Kranz aus Ackerwinden, den das Mädchen bei der Firmung trägt, hält sich einen Tag.
Dann wird er zu Heu.

Wenigstens einmal am Tag

Das Kind sagte, es habe keine Lust. Wozu, das hatte der Vater in diesem Moment bereits vergessen.
Bei ihm selbst, dachte er, saß die Unlust schräg über der linken Augenbraue. Und er rieb sich diese Stelle mit so viel Druck, dass sie noch Stunden danach gerötet war. Dort also saß sie, ein kleiner, trüber Mond, der ihn bis an den Rand der Kapitulation ermüdete, wenigstens einmal am Tag.
Wenn er diese Unlust nur hätte herausoperieren können, mit diesem Messer aus der Küchenschublade, dachte er, oder wenigstens lahmlegen, indem er sich gezielt den Kopf stieß, hier, an dieser Tischkante, und sei es, dass er dabei bewusstlos würde.
Ach. Aber dazu hatte er, wie zu vielem anderen, keine Lust.
Er blieb lieber hier stehen, sah zu, wie das Kind nun einen Ball gegen eine Wand trat, und wünschte, dass es nie mehr damit aufhören würde.

22.01.2012

Bekannt wie ein grauer Hund.
Es ist fünf vor Tier.

20.01.2012

»Eure Ideen sind grauenerregend, eure Herzen schwach. Eure dem Mitleid und der Grausamkeit entsprungenen Taten sind absurd; eine Hast eignet ihnen, als wären sie unwiderstehlich. Zuletzt wird eure Angst vor dem Blut immer größer. Vor dem Blut und vor der Zeit.«

(Paul Valéry)
Ihre Augen waren wie ausgeschnitten aus einer Zeitung, einer Zeitung voller schlechter Nachrichten.

17.01.2012

»Scars have the strange power to remind us that our past is real.«

(Cormac McCarthy)

Costa Concordia

Ihr Dorf ist nun nicht mehr das Dorf am Meer, es ist das Dorf am gesunkenen Schiff. Und nachts liegen sie in ihren Betten und horchen hinaus. Hinter den Fenstern, die Straße hinunter ans Ufer, ein paar Meter über das Wasser, im Rumpf, hinter dem Stahl: Schreit da noch jemand? Sie hören es, ohne es zu hören.
Aber schreit er um Hilfe oder längst um Erlösung? Drei Tage in Finsternis, und das Wasser steigt. Wenn Gott wenigstens geblieben wäre, um sich anzusehen, was er hat geschehen lassen, als wäre er ein vertrotteltes Kind.
Wie kommt man durch Stahl, denkt der Vater. Wie atmet man ohne Luft, der Sohn. Hoffentlich keine Kinder, die Mutter.
Nächsten Monat, wenn niemand mehr schreit, wird der Präsident kommen und einen Kranz auf das gesunkene Schiff legen. Wie ein Vogel, der den ersten Samen auf eine neue Insel trägt. Doch der Kranz, er wird verdorren im Salz und im Rost.
Wie kriegt man das Schiff aus der Bucht, denkt der Vater gegen Morgen. Der Sohn soll doch wieder baden können. Eines Tages.

Wenn Vögel lächeln könnten –
sie würden es nicht tun.
»Lebt G. eigentlich noch?«
»Ein bisschen.«
Er zögerte nicht zu zögern.
»Stell dir vor, du wärest glücklich«, sagte der eine.
Darauf der andere: »Ja. Und jetzt?«

16.01.2012

»Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen.«

 (Goethe, »Faust«)

15.01.2012

»Ganz ehrlich«, hob er an und schwieg dann bis zum Ende seines Lebens.
»Don't you forget what's divine in the Russian soul and that's resignation.«

(Joseph Conrad)

Traum

Plötzlich war die Verstorbene wieder lebendig und sagte, nein, sie könne nicht an dem Fest teilnehmen. Es sei schließlich ihr Todestag, und da gehe man nicht aus dem Haus.

Wie man nickt, um zuzustimmen

Der Vater kam mit der Taube auf dem Kehrblech in die Küche. Sie war tot. »Hier«, sagte er, die Kälte des Winters noch in den zwei Jacken, die er trug, »die ist mir eben vor die Füße gefallen.« Als er sich die Nase am Handrücken abgerieben hatte, fügte er hinzu: »Die wollte wohl nicht mehr.«
Doch wie man nickt, um zuzustimmen, das wussten die Kinder mit einem Mal nicht mehr. Sie taten so, als äßen sie. Dann gingen sie, jedes für sich, in verschiedene Zimmer.

11.01.2012

Die Sonne schien auf all das durch einen Schleier aus Dunst, gerade so als schämte sie sich.
Der Chinese des Schlafes.

10.01.2012

»Töte mich, sagte sie. Und er tötete sie. Und als sie endlich tot war, sagte sie noch, mach weiter.«

(Wolf Wondratschek)
»Diese Distel dort ist so schön wie eine Rose«, sagte sie und zeigte auf eine Rose.
»Mit einer Zigarette zwischen den Lippen ist es nicht möglich, gänzlich trostlos zu sein.«

(Robert Walser)
Der allunwissende Erzähler.

09.01.2012

Sie linst hinüber zu ihnen: Ihr Hass auf sie könnte das Schaufenster füllen. Die Möglichkeit, dass diese Mutter ihre Tochter verprügelt, ist von der Wirklichkeit nur noch wie durch ein Blatt Papier getrennt.
»Verdient hätten sie's«, sagt die Großmutter, die oben im Haus, von wo sie seit Jahr und Tag niemand mehr herunterträgt, nicht einmal zu Weihnachten, im Bett liegt. »Die...« Sie muss husten.
Und die Töchter, sie können einander nicht halten, weil sie die Hände frei haben müssen. Zum Beten, zu wem und wofür auch immer.

08.01.2012

»Ich habe Altphilologie studiert; sagen sie es nicht. Sagen Sie, dass ich bestrebt war, kein Altphilologe zu sein, was ich im Grunde nicht bin, sondern ein Enkel von Winzern und Bauern, und es war mein Wunsch, ihnen Ausdruck zu geben.«

 (Charles-Ferdinand Ramuz)
Das Mädchen mit dem Fahrrad, unterwegs auf dem Feldweg bei Regen: Wie soll es die Eier aus dem Dorf rechtzeitig zum Abendbrot nach Hause bringen? Es ist schon spät.
Fährt es schnell genug, fallen sie aus dem Korb und zerbrechen. Fährt es zu langsam, wird der Vater es schelten, es habe getrödelt. »Du Sau!«, wird er brüllen. »Wo bist du gewesen?«
Und es kann nichts dazu sagen. Er hat doch den ganzen Tag gearbeitet. Nur Gott traut sich, ihn um sein Rührei zu betrügen.

07.01.2012

Die Erkenntnis, worum es sich wirklich handelte, blieb ihm nur so lang wie der Atemhauch eines Babys auf einem Spiegel.
»Schatten hoch oben auf der ziehenden Wolke, hebt mich heraus aus der tödlichen Geschichte meiner Vorfahren.«

 (Peter Handke)
Selbst auf dem alten Bild ist das Haus schon alt. Lange vor uns stand es schief und leer, kein Weg mehr führte zu ihm. »Dies Haus ist mein und doch nicht mein«, steht da geschrieben, überm Eingang. »Im Himmel, da soll meine Wohnung sein.« So kam es: Das letzte Kind, das hier schlief, ist längst tot.
Und noch immer wartet das Haus dort auf der Lichtung, bis es kein Haus mehr sein muss. Dann macht es sich selbst das größte Geschenk und stürzt, die Dachbalken hochwerfend wie ein Gefallener, in sich zusammen. Dies Haus war mein und doch nicht mein.

Kurze Geschichte der Luisenstraße

Hausnummer 10 wurde 1943 bei einem Angriff auf den Bahnhof zerstört, wobei 3 Kinder ums Leben kamen. Der Bahnhof blieb unversehrt.

06.01.2012

Lang genug haben diese Gänse nun gelebt – den Leuten ist nach Weihnachten zumute. Und siehe, die Viecher gehorchen, laufen die Straße hinunter zum Bahnhof, lassen sich ganz lieb in den Zug heben, der sie in die großen Städte bringt, nach Hamburg, Bremen, in die Schlachthäuser, die in einer Stunde mehr von ihnen köpfen können als alle Bauern hier in einem Jahr. Da: Manche springen sogar hinein!
Sie brauchen noch nicht einmal einen Hund, der sie antreibt. Der Hirte lächelt. »Wie schlau diese Tiere sind«, denkt er. »Sie finden den Tod von ganz allein.«

»Im Sommer fallen die dicken Leute auf, im Winter die dünnen.«

(Walter Benjamin)
A: »Ich habe immer genug Schnaps im Haus, um mich umbringen zu können.«
B: »Warum tust du es dann nicht?«
A: »Ich habe keinen Durst.«
»Was ist Liebe?«, fragte der eine.
Der andere aber sagte: »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Beim Film

Sie arbeitete als Kellnerin, wenn man sie jedoch nach ihrem Beruf fragte, sagte sie, sie sei Schauspielerin.
Da kam ein Regisseur in das Wirtshaus und bot ihr eine Rolle an: Sie sollte in seinem nächsten Film eine Kellnerin darstellen.
Aber sie war ja Schauspielerin.

05.01.2012

»Wenn das Schöne nicht wehtut, kann man es kaufen.«

(Peter Handke)
Am Lazarussamstag zerren sie das Rind aus dem Stall: Der eine streichelt ihm das Kinn und stellt sich vor, es sei die Maikomtess, der andere lässt so lange das Beil schweben, wie er kann. Er schlägt nicht zu, noch nicht: All das ist nur fürs Foto. Dann bringen sie das Rind zurück in den Stall. Es ist enttäuscht.

04.01.2012

»Alles Gute ist die Verwandlung eines Bösen, jeder Gott hat einen Teufel zum Vater.«

(Nietzsche)
Der Ex-Mensch

03.01.2012

Dunkle Straße

Es ist sein Heimweg, auf dem der Bauer Angst vor sich selbst bekommt: Wenn es noch dunkler wird, und es wird dunkler mit jedem Schritt ins Moor hinein, schlägt er sich selbst tot heute Nacht.
Aber wer füttert dann die Kühe?


Hermann, sla Lärm an!
Lei pipen, lei trummen!
De Keiser will kummen,
mit Hammer und Stangen,
will alle uphangen.

02.01.2012

Es war einmal ein Zwerg, der war 1,87 Meter groß.

Hoher Sühn

Drahtschmielen, Flattergras,
Buchen, Buchen:
Wald, der keiner ist.
Sandabbau, Stillgewässer –
Bockhop, Boller Moor.
Wer hier stirbt, war vorher nicht tot.

01.01.2012

Finken Fritz

Zum Hof hat das Haus nur zwei Fenster, gerade groß genug für sein kleines Gesicht. Fritz muss auf den Schemel steigen, wenn er sehen will, dass der Vater auch heute nicht heimkehren wird.
Wo ist Osten?
Was ist ein Krieg?
Die dumme Mutter ist alles, was er noch hat, das ist nicht viel.
Sehen Sie nur! Die Gans rennt ins Haus. Sie hat wohl Angst vor dem Fuchs. Und das am helllichten Tag.

Totholzhecke
Friedhofserwartungsland
Mauern zu Grabmalen