30.01.2012

Der weiße Rabe

In dieser Familie besaß jeder nur einen Lappen. Nachdem sie sich selbst gewaschen hatten, wuschen sie den Lappen. Der Lappen war meist sauberer als sie selbst. Er musste Jahre halten.
Der Lappen des Jungen war weiß mit einer roten Lasche, an der er ihn abends, vorm Schlafengehen, über den Ofen hängte, damit er bis zum Morgen trocknen würde. Wie ein elender Rabe blickte der Lappen auf den Jungen herab und war, als wollte er es noch schlimmer machen, nicht schwarz, sondern weiß. Ein weißer Rabe, selbst im Dunkeln.
In einer Winternacht nun blies ein eisiger Sturm, und warum der Junge plötzlich Lust bekam, das Fenster zu öffnen und den noch klammen Lappen hinaus in den Sturm zu hängen, das kann er heute, nach all den Jahren, beim besten Willen nicht mehr sagen.
Der Lappen gefror im Sturm und wurde so hart, dass er sich leicht in zwei Teile brechen ließ. Zwei Lappen hatte der Junge nun, einen mehr als zuvor. Zwei kleine Lappen.
Der Vater wurde zornig, als er am Morgen die zwei kleinen Lappen in den Händen des Jungen sah. Er schlug ihn hart ins Gesicht, doch der Junge war trotzdem froh: Denn er hatte einen Lappen, um ihn gegen die blutende Braue zu pressen, und immer noch einen, um sich zu waschen. Etwas, wenigstens etwas hatte er richtig gemacht.